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Friedliche Koexistenz

Es ist Ende Mai – und wir sind von einem schönen Urlaub zurückgekehrt. An einem Ort, der nicht ganz so offenkundig uns Naturisten ansprechen kann, obwohl diese Anlage unsere Bewegung im Namen trägt. Die Rede ist vom Village Naturiste Cap d’Agde

Port Nature Village mit Blick zur Hafeneinfahrt (zum Vergrößern auf das Bild klicken)
Geschichte und Strukturen

Was in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit dem Campingplatz von René Oltra seinen Anfang nahm, wurde in den 70er Jahren durch die Stadt Agde um futuristische Bauten im südwestlich daran angrenzenden Areal ergänzt. Es sind im Wesentlichen drei große Überbauungen, welche diese Anlage prägen:

  • Héliopolis
  • Port Ambonne
  • Port Nature (Colline 1 bis 6)

Dazwischen resp. daneben liegen kleinere Dörfer, welche aus vorwiegend aus Bungalows resp. einstöckigen Häuschen gebildet werden — man nennt sie hier „Villas“. Die Dörfer heißen

  • Héliovillage
  • Port Nature Village
  • Port Soleil
  • Port Vénus

Zu den größeren Gebäuden zählen ebenfalls die Hotels, wie z.B. Hotel Eve, Oz’Inn, Natureva Spa etc.

Die Grundrisse der in den 70er Jahren entstandenen Apartments entsprachen den damaligen Bedürfnissen. Heute würde man sicher großzügigere Wohnflächen planen. Trotzdem sind einige Behausungen teilweise sehr luxuriös ausgestattet  — man kann sagen, geradezu vollgepackt mit moderner Komforttechnik, wie z.B. große Kühlschränke, Klimaanlage, Induktionsherde, Stereoanlagen, Flachbildfernseher…

Gesellschaftliche Wandlung

Der sich in den vergangenen 45 Jahren veränderte Zeitgeist hat nicht nur im Ausbau der Wohnungen seine Spuren hinterlassen. Was damals, kurz nach dem gesellschaftlichen Aufbruch der 68er,  überhaupt kein Aufhebens verursacht hat, wie z.B. ein freizügiger und unaufgeregter Umgang mit der eigenen Sexualität, hat sich heute zu einem großen, kommerziell orientierten „Jahrmarkt der Swinger“ gewandelt. Das Village Naturiste ist davon leider stark betroffen. Mark Haskell Smith, dessen Buch „Naked at Lunch“ ich hier schon einmal erwähnt habe, spricht von einem Stellungskrieg zwischen Naturisten und Swingern.

Wir sehen das um einiges entspannter.  Wir Naturisten gehören leider zunehmend zu einer aussterbenden Spezies. Das bleibt für die klassischen Naturismus-Zentren nicht ohne Folgen: Läden und Restaurants auf dem Areal schließen, und viele Apartments und Stellplätze bleiben leer.  Dies gilt nicht für die „Welthauptstadt der Nackten“, wie der Wikipedia-Artikel das Village Naturiste in Cap d’Agde bezeichnet.  Es gibt viele Restaurants, 3 Supermärkte, 6 Bäckereien mit frischem, vor Ort hergestelltem Brot, 1 Obst- und Gemüseladen, 2 Fischläden, 3 Weinhandlungen, einige Kioske, und ein paar Kleiderläden (sic!)

Über Kleidung und zugehörige Regeln

In keinem dieser Restaurants und Geschäfte besteht Kleiderpflicht — man kann also den ganzen Tag in seinem Geburtstagskleid verbringen, so wie die englischen Naturisten die Nacktheit umschreiben (birthday suit). Dies steht in starkem Kontrast zu vielen typischen Naturistenanlagen, wie z.B. in der Anlage die neue zeit im schweizerischen Thielle, wo wir am Kiosk nicht bedient worden sind, weil wir es wagten, nackt an die Theke zu treten. Oder die streng nach Geschlechtern getrennten Sanitäranlagen in Valalta, mitsamt der Kleidungspflicht im zugehörigen Laden.

Stichwort Kleidung: Die erwähnten Kleiderläden im Village Naturiste bedienen einen speziellen Geschmack: Es handelt sich überwiegend um Reizwäsche, sexy Dressing und dergleichen. Dies ist der Swingerkundschaft geschuldet, ebenso wie die Geschäfte, die Sexspielzeug und Fetischware verkaufen. Wo wir früher, in den späten 70er Jahren, mit anderen Paaren einen netten, freizügigen Abend verbracht haben, im Geburtstagskleid natürlich, begibt man sich heutzutage offenbar in aufgebrezelter Montur in einen Swingerclub. Vielleicht sind wir auch nur zu alt, um dieses theatralische und kostspielige Beiwerk rund um die natürlichste Sache der Welt nachvollziehen zu können.

Mit diesem kurzen Abstecher möchte ich es bewenden lassen — das Village Naturiste bietet dermaßen schöne Gegenden, dass man sehr gut über die kommerziellen, doch fürs Überleben der Anlage notwendigen Umtriebe hinwegsehen kann. Um dem möglichen nächtlichen Lärm zu entgehen, sollte man das richtige Dorf auswählen. Unsere bevorzugte Gegend ist das das Village Port Nature, sowie das Héliovillage. Auch die Zeit, wann man seinen Urlaub hier verbringt, ist entscheidend. Mai und September sind ideal, auch im Juni herrscht noch nicht derselbe hektische Betrieb wie im Juli und August.

Der 2km lange, den Nackten vorbehaltene Strand ist nach unserem Eindruck einer der schönsten der französischen Mittelmeerküste. Der feine Sand und das langsam abfallende Ufer sind einzigartig.

Port Nature Village mit Blick zum Colline 3 (zum Vergrößern auf das Bild klicken)
Ein nettes Nebeneinander

Die Schauplätze (im wörtlichen Sinn) können sehr interessant und unterhaltsam sein. Zum Beispiel ein kühles Bier im Café „La Palmeraie“  oder im Café „La Pilouterie“ am Boulevard des Matelots, vorzugsweise am frühen Abend. Die aufgebrezelten Gestalten in ihren „sexy dresses“ flanieren vorbei, um gesehen zu werden.

Nach unserem Eindruck besteht freundliches Nebeneinander zwischen den Vergnügungssuchenden und den Nackten, zwischen den unzähligen Nachtclubs der Anlage und der Schönheit der Natur. Bestimmte Gegenden haben es zwar schon in die Google-Maps geschafft, muss man aber nicht unbedingt aufsuchen, wenn man den Schwanz-Konvent (™nK) der Sexsuchenden nicht sehen mag.

Wenn man das Village Naturiste aufsuchen will, muss sich also bewußt sein, dass man einige Dinge zu sehen bekommt, die nichts mit dem Menschenbild der INF zu tun haben. Nicht zuletzt wegen der sexuell aufgeladenen Atmosphäre und dem Angebot der Nachtklubs wurde im Jahre 2004 das Village Naturiste Cap d’Agde von der Mitgliedschaft im FFN ausgeschlossen.

Praktisches

Zum Schluss noch ein paar praktische Tipps. Wie bereits erwähnt, ist es in der Vor- und Nachsaison nicht nur ruhiger, sondern die Objekte sind auch sehr viel günstiger zu mieten. Einer der ganz großen Anbieter in Deutschland für Cap d’Agde ist Naturist.de. Dessen Mitarbeiter vor Ort, Fanny und Alexander Fischer, bieten auch ihre eigenen, sehr gepflegten Objekte unter dem Namen PortNature.com an.

Wir haben dieses Mal von der Familie Fischer die Villa 180 gemietet.

(zum Vergrößern auf das Bild klicken)
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Es gibt eine weitere private Vermietung mit zwei Objekten im Héliovillage: Cap d’Agde-Naturiste.de. Elke Brönner vermietet in diesem Dorf zwei sehr gepflegte Apartments / Villas. Elke vermittelt auf ihrer Webseite eine riesige Zahl wertvoller Tipps für das Village Naturiste sowie für Ausflüge in das Umland von Agde.

Noch ein kulinarischer Tipp: Die Bäckerei im Port Nature Village, im Colline 1 direkt neben dem Vival Supermarkt, „La Mie d’Hélène“ bietet den ganzen Tag frische Backwaren aus eigenem Ofen – selbst hergestellt und vor Ort gebacken, also keine aufgebackenen Teiglinge! Die Brioches am Morgen sind unser Favorit.

Egal welche Vermietungsagentur, es lohnt sich, möglichst frühzeitig zu buchen, damit das gewünschte Objekt noch frei ist. Wer Fragen zu diesem Urlaubsziel hat, oder ergänzende Informationen beitragen will, ist herzlich eingeladen, dies zu tun: Siehe Seite Kontakt.

Naked at Lunch – ein Buchtipp

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Mark Haskell Smith, Schriftsteller, Sachbuchautor und Universitäts-Dozent aus Los Angeles, hat sich für ein Jahr in die Welt der Nackten begeben.  Das Resultat seiner „angewandten Feldforschung“ ist ein  Sachbuch über den Naturismus, welches sich ebenso unterhaltsam wie eine Erzählung liest.

Ein Buch über den Naturismus aus der Feder eines Amerikaners ist umso bemerkenswerter, da die Nacktheit in der US-amerikanischen Gesellschaft fast schon notorisch mit Sexualität verbunden wird. Deshalb hat sich der Autor mit dem Begriff „nonsexual social nudism“ beholfen, um seine Leserschaft in die richtige Richtung zu leiten.

Ich habe mir sowohl die US-amerikanische Originalausgabe (2015) in der UK-Edition als auch die deutsche Übersetzung (2016) besorgt und parallel gelesen. Abgesehen von ein paar kaum zu übersetzenden und deshalb fehlenden USA-typischen colloquialisms ist die Übersetzung ins Deutsche von Jan Schönherr  erstaunlich exakt.

Seine Feldforschung betreibt Mark Haskell Smith sowohl an den verschiedensten Orten als auch an unterschiedlichen Quellen, wie z.B. in Archiven der Naturistenvereinigungen in den USA und in Europa. Es gibt Erlebnisberichte aus so unterschiedlichen Orten in Europa wie z.B. Vera Playa bei Almeria, dem Village Naturiste in Cap d’Agde, aus den österreichischen Alpen anlässlich der NEWT 2013 (Naked European Walting Tour) bis hin zu einer Bare Necessities Kreuzfahrt in der Karibik.  (Randbemerkung: Mein letzter Link zu den Kreuzfahrten ist mit einen Javascript-Dialog versehen, worin man seine Volljährigkeit zu bestätigen hat.  In den USA dürfen Kinder – zwar unter erwachsener Anleitung – Schusswaffen benutzen, aber niemals nackte Körper zu Gesicht bekommen.)

Trotz vieler amerikanischer Sichtweisen auf den Naturismus ist dieses Buch absolut lesenswert, auch für die Menschen, die sich (noch) nicht mit der sozialen Nacktheit auseinandergesetzt haben.

Selbstbegegnungen – ein Buchtipp

„Das Fremde in uns und das Fremde um uns — beides könnte uns bereichern. Dazu müssen wir aber verlernen, es uns verständlich machen zu wollen.“

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Neulich, ganz zufällig  während einer Autofahrt, habe ich die  SRF2-Radiosendung «Kontext» verfolgt. Unter anderem gab es eine Buchbesprechung zu Martin R. Dean’s neuem Buch «Verbeugung vor Spiegeln». Er hat dieses Buch 2015 aus Anlaß seines 60. Geburtstags geschrieben. Es ist eine Art Rückblick auf einen wesentlichen Teil seines bisherigen Gesamtwerks — oder für mich sogar auch eine Art Gebrauchsanweisung, seine früheren, teilweise autobiographischen Romane zu lesen. Aufgrund dieser Buchbesprechung habe ich mir dieses Buch sofort besorgt und es mit zunehmender Begeisterung gelesen.

Daraufhin habe ich gleich noch weitere Romane dieses Autors bestellt – sie sind zum Teil nur noch antiquarisch erhältlich. Hierbei ist das Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher sehr hilfreich. Herausragend in dem autobiographischen Kontext sind vor allem die Titel «Ein Koffer voller Wünsche» und «Meine Väter».

Nun aber zurück zum Eingangs erwähnten Buch «Verbeugung vor Spiegeln». Der Klappentext umschreibt sehr treffend den Ansatz, welchen Martin R. Dean seiner Leserschaft vermitteln möchte:

Über das Eigene und das Fremde

„Man könnte meinen, das Fremde sei allgegenwärtig. Jedenfalls gibt es kaum ein Thema, das von der Tagespolitik über die Medien bis zu den Stammtischen so heftig diskutiert wird, und immer geht es um die Fremden und um Abwehr, Regulierung und Integration. Martin R. Dean, als Sohn eines Vaters aus Trinidad in der Schweiz geboren, kennt die Debatte, vor allem aber kennt er die Erfahrung, die er in vielen seiner Romane fruchtbar gemacht hat. So auch in diesem Buch, in dem er das Fremde als radikale Erfahrungsmöglichkeit im Austausch unter Menschen beschreibt. In  vielfachen Selbstbegegnungen sucht er nach Spuren der eigenen Verwandlung, wie sehr ihn das Fremde, die Begegnung mit dem anderen, auf Reisen, in der Literatur, zu dem gemacht hat, der er ist. Und er kommt zu einem überraschenden Schluss: Das Fremde, das eigentliche Kapital der Moderne, droht in den Prozessen der Globalisierung zu verschwinden. Um es wiederzugewinnen, müssen wir darauf bestehen, dass das Fremde fremd bleibt, wir müssen es aushalten. Und wir müssen vor allem „verlernen“, es uns verständlich machen zu wollen.“

In der heutigen Zeit, in der wir wegen der Flüchtlingsströme auf Fremdes, Andersartiges womöglich zum ersten Mal überhaupt aufmerksam werden, ist dieses Buch ein wahrer Augenöffner und ein Plädoyer für Menschlichkeit und mehr Achtsamkeit im Umgang miteinander.

Über den Autor

Geboren am 17.7.1955 in Menziken (Kanton Aargau, Schweiz). Arbeit als Schriftsteller, Journalist und Essayist in Basel. Gymnasiallehrer am Gymnasium Muttenz (BL) mit Teilzeitpensum. Verheiratet mit der Kulturwissenschaftlerin Silvia Henke (Hochschule Luzern). Seit 2009 Auftrag am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel.

Der Siegeszug von Ignoranz und Infotainment

Dieser Tage ist mir ein Artikel der NZZ untergekommen, welcher ein Schlaglicht auf die Spaßkultur, die Ignoranz und das Infotainment der westlichen Welt wirft. Die Autorin, Andrea Köhler, macht sich Gedanken über eine Bewegung, die von den USA aus auf uns herüberschwappt:

Die Amerikaner werden immer dümmer – und damit sind sie nicht allein. Soeben ist in Deutschland ein Buch mit dem Titel «Generation Doof» erschienen, in dem das Phänomen der galoppierenden Ignoranz aufs Korn genommen wird. Die Generation der Zwanzig- bis Dreissigjährigen kann zwar an die zwanzig Klingeltöne fürs Handy, nicht aber Wagner von Beethoven unterscheiden. Falls sie überhaupt noch weiss, wer Wagner und Beethoven waren. Wieder einmal hat merika die Vorbildfunktion. Oder wie Mark Twain so schön sagte: When America sneezes, Europe catches the cold.

Ich bin mir nicht so sicher – falls diese Erscheinung jemals gestimmt hat – ob es heute noch ebenso ist. Vielleicht kommt die alte Welt in ihrer Verblödung sogar ohne die vielgeschähten USA aus. Wenn ich mir die Tendenzen in den elektronischen, aber auch in den Printmedien ansehe, fällt mir auf, dass allein in der kleinen Schweiz das Überangebot der belanglosen Nachrichten einen immer größeren Stellenwert hat. Es ist nicht mehr nur der „Blick“, inzwischen gibt es ein 20 Minuten, und namhafte Zeitungen haben mit der Boulevardisierung nachgezogen, siehe z.B. die ehemals ernstzunehmende Basler Zeitung.

Weiter in ihrem Artikel schreibt Andrea Köhler über die gesellschaftliche Ächtung der Melancholie. Was ich als “nachdenkliches Innehalten” bezeichne, sehen Andere vielleicht schon als Party-Stimmungstöter in unserer ach so lustigen und fröhlichen Welt, Nochmals Zitat aus Andrea Köhlers Artikel:

Interessanter ist da vielleicht ein anderer Aspekt: nämlich der merikanische Zwang zum Glücklichsein oder, mit dem Autor von Against Happiness» gesprochen: das Verbot der Melancholie. Eine Nation, die alles Grübeln mit Prozac austreibt, verliert nicht nur eine wichtige Quelle der Inspiration, sondern auch die Reflexionsfähigkeit. Die Gewohnheit, selbst milde Anfälle von Traurigkeit schon bei Kindern mit Medikamenten zu unterdrücken, leistet der grassierenden leichgültigkeit in sämtlichen Lebensbereichen Vorschub; wer nichts als Spass im Kopf hat, wird sich kaum um gravierendere Probleme als Paris Hiltons neueste Eskapaden scheren.

Nun ist es ja leider nicht so, dass die allgemeine Verdummung vor den Printmedien haltmachte. Die zunehmende Bereitschaft auch der eriösen Zeitungen, sich dem galoppierenden Schwachsinn aus Angst or einem vermeintlichen Verlust von Lesern (und Anzeigenkunden) eilfertig anzubiedern, ist womöglich besorgniserregender als die Exzesse der digitalen Demenz. Darüber hinaus sind die Grenzenz zwischen den unterschiedlichen Medien im Begriff sich aufzulösen. Auch der Kotau vor den Skandalisierungen der Entertainment-Industrie ist längst an den Orten der klassischen Kulturkritik selbst angekommen. Umgekehrt gewähren Fernsehen oder Internet zum Teil entlarvendere Einblicke in die geistige Verfassung unserer Repräsentanten oder Idole, als es jede gedruckte Analyse vermöchte.

Wir empfehlen hier einen Besuch auf You Tube, wo man unter dem Stichwort «Are You Smarter Than a 5th Grader?» das «American Idol» Kellie Pickler bei dem Versuch beobachten kann, die Geografie Europas («Hungry is a country?») auszuloten. Im Übrigen haben kulturpessimistische Klagen den Vorteil, dass sie so schnell nicht veralten. «Jetzt ist nur noch eine Art von Ernst in der modernen Seele übriggeblieben», notierte Friedrich Nietzsche in seinen «Unzeitgemässen Betrachtungen». «Er gilt den Nachrichten, welche die Zeitung oder der Telegraph bringt.» Die moderne Seele ist inzwischen hundertdreissig Jahre älter geworden.

Ich denke, hier ist nichts mehr hinzuzufügen. Anlass zu diesem Artikel von Frau Köhler waren mehrere amerikanische Neuerscheinungen, die sich diesem Phänomen widmen, so z.B.:

  • The Age of American Unreason by Susan Jacoby
  • Anti-Intellectualism in American Life by Richard Hofstadter

welche ich mir natürlich sofort bestellt habe.

Unfrieden – leider auch unter Naturisten

Im heutigen NZZ-Folio ist unter der “Vereinsleben-Kolumne” ein Bericht über einen Konflikt unter Naturisten abgedruckt. Ein Ehrenmitglied des Naturisten-Vereins “die neue zeit” soll von dem Vereinsgelände vertrieben werden. Für das Ehrenmitglied, Horst Neumann, wehrt sich Kurt Haupt mit seiner eigens dafür eingerichteten Webseite.

Die Sicht des Vereins „die neue Zeit“ wird in den Informationen des Stiftungsrats dargelegt.

Ich finde es ernüchternd, dass Konflikte unter Nackten unter den gleichen “Spielregeln” ausgetragen werden wie in der übrigen Welt. Die Vision der “neuen zeit” erweist sich als wenig tragfähig.

Begegnungen

Im Internet wird viel berichtet von möglichen Begegungen. Manchmal frage ich mich, ob diese Begegnungen in der Phantasie derjenigen Menschen stattfinden, die von ihnen berichten. Möglicherweise hat der vernetzte Bildschirm die ähnliche Wirkung wie das Auto als Verkehrsmittel. Man kommt nicht in Kontakt zu den Menschen. Bei meinen Flugreisen bin ich immer wieder überrascht, wie vielen netten Menschen ich begegne. Dasselbe gilt natürlich für das Reisen mit der Bahn.

Aaaaber – ja, ein langes “aber” musste kommen. Es kommt sehr darauf an, wie man den Mitmenschen entgegentritt. Es gibt dazu eine schöne Geschichte aus alter Zeit™:

Vor den Hügeln einer großen Stadt saß ein alter Mann. Ein Fremdling näherte sich ihm und fragte „Sag an, was für Menschen leben in dieser Stadt?“

Der Alte ließ sich Zeit mit der Antwort, fragte den Fragesteller, wo er herkam, und schließlich, was für Menschen er denn dort kennengelernt habe. „Die Menschen dort sind unzuverlässig und heimtückisch, stets auf ihren Vorteil bedacht und unfreundlich, weswegen ich dort weggezogen bin.“

Der Alte sagte bedauernd „Nun, ich fürchte, Dich enttäuschen zu müssen. Du wirst die Leute hier nicht anders finden.“

Etwas später zog ein anderer Fremder vorbei und stellte dieselbe Frage. Auf dieselbe Gegenfrage meinte er „in meiner Stadt leben fröhliche Menschen, die gastfreundlich und hilfsbereit sind, Freunde in der Not und von Herzen gut.“

Der Alte sagte ihm „Du wirst Dich in dieser Stadt wohlfühlen. Du wirst die Leute hier nicht anders finden.“

(Verfasser unbekannt)

Es geht also darum, dem anderen offen, ohne Mißtrauen zu begegnen. Ob das noch möglich ist, wenn man sich voller Argwohn auf ein arrangiertes Treffen verabredet? Ja, das Internet als große Jekami-Veranstaltung bietet solche Treffen gegen bares Geld an: Flirtbörsen, Dating-Agenturen usw. Wohlgemerkt, dies hat nichts mit einer professionellem Partnervermittlung wie z.B.  Maria Klein zu tun. Hier handelt es sich in der Regel um Werbeagenturen, die mit irgendwelchen Software-Programmen, die die Fragebögen vergleichen,  das schnelle Geld machen möchten. Und, wie könnte es anders sein, dazu gibt es  bereits die Metaebene: Leute, die sich mit den Auswüchsen dieses Marktes auseinandersetzen. Schade, dass diese Auseinandersetzung so wortreich daherkommt, wie ich es gestern moniert habe.

Rechtschreibeprüfung

Ich habe soeben einen neuen Zeitvertreib entdeckt: Gib’ einem Textverarbeitungsprogramm ein Wort zur Überprüfung, und freu’ Dich über die vorgeschlagenen Varianten, wenn es dieses Wort nicht kennt!

OpenOffice Writer kennt offenbar keine “Naturistenfamilien”. Interessant, was es als Ersatz dafür vorschlägt:

  • Aristokratenfamilien
  • Algorithmenfamilien
  • Bauernfamilien
  • Familienministern (sic! Was auch immer das sein soll…)

Jedenfalls hat die vorgeschlagene “Aristokratenfamilie” ein Forumsmitglied zu einem philosophischen Gedankenspiel angeregt, wie man hier lesen kann. Ob SUN Microsystems Inc. als federführender Teil der Entwicklung von OpenOffice sich der kreativen Wirkung bewußt ist?

Vernetzung

Es gibt es doch noch: Engagement für eine Sache, ohne die Aussicht auf einen materiellen Gewinn zu haben. Als Beispiel heute: die Weblogs. So können Leute, die aus den unterschiedlichsten Ecken kommen, zueinander finden. Der gemeinsame Nenner, die sie verbindet, heißt: Freude am gepflegten Gespräch. So geht Vernetzung: Maria Klein verweist in ihrem blog auf unser nacktKULTUR-Forum.

Zurecht wird der kritische Beobachter, die kritische Beobachterin einwenden, dass dies alles nur virtuell stattfindet. Jedoch: wo steht geschrieben, dass es bei der virtuellen Begegnung bleiben soll? Um ein Treffen im RealLife™ zu vereinbaren, braucht es nur ein E-Mail, und natürlich das Interesse beider Beteiligten. Menschen, die sich nie im Leben begegnen würden, kommen auf diese Weise zusammen. Wie bitte? Hat da jemand gesagt, der Computer mache einsam?

Es ist wie mit dem scharfen Küchenmesser: Man könnte einen Menschen damit umbringen, aber ebensogut (oder noch besser) schneidet man damit Rinderwade, um ein schönes Pörkölt zuzubereiten.